„Die EU setzt nicht die richtigen Ziele“
Interview mit Bruegel-Forscherin Reinhilde Veugelers über die Renaissance der Industriepolitik.
Vor dem Hintergrund der Eurokrise besinnen sich die Politiker auf die Bedeutung der Industrie zurück. Hat Europa eigentlich eine gemeinsame Industriepolitik?
Teils ja, teils nein. Auf der EU-Ebene ist die Industriepolitik vor allem horizontal. Die zentralen Instrumente sind hier der Binnenmarkt und die Wettbewerbspolitik. Aber die wichtigsten Hebel liegen weiterhin bei den Mitgliedstaaten. Deshalb gibt es eine gemeinsame Verantwortung für die Industriepolitik in Europa. Das Problem ist, dass die verschiedenen Ebenen nicht gut untereinander koordiniert sind.
Heißt das, dass die EU mehr tun müsste? Oder sollten wir uns lieber an den deutschen Ansatz halten, der auf Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit setzt?
Nun, was Sie den deutschen Ansatz nennen, ist natürlich auch eine Politik. Die Frage ist doch nicht, ob wir Wettbewerb und Wettbewerbsfähigkeit brauchen - wir haben beides nötig - , sondern wie wir die richtigen Rahmenbedingungen setzen können, um Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Am wichtigsten ist ein offener und effizienter Binnenmarkt. Die europäische Industrie braucht einen besser integrierten Markt, und zwar nicht nur für Industriegüter, sondern auch für unterstützende Dienstleistungen (Transport und Logistik, Business Services etc.), für Energie und für Qualifikationen. Daher ist die wichtigste Aufgabe für eine Industriepolitik auf europäischer Ebene die Vervollständigung des Binnenmarkts in all diesen Dimensionen.
Die Kommission möchte den Abwärtstrend im verarbeitenden Gewerbe umkehren und ihren Anteil an der EU-Wirtschaftsleistung von derzeit rund 16 auf über 20 Prozent anheben. Sie sind skeptisch - warum?
Der sogenannte Niedergang der Industrie hält nun schon seit geraumer Zeit an. Er wird von Megatrends wie höherer Produktivität, geografischen Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung, oder der wachsenden Nachfrage nach Dienstleistungen getrieben. Diese Trends dürften sich auch in naher Zukunft fortsetzen. Der Beitrag der Industrie wird sich daher nicht an der Zahl der Arbeitsplätze bemessen lassen, sondern an der Erhöhung der Produktivität und der Wertschöpfung. Was zählt, ist also nicht die Zahl der Jobs, sondern die Qualität der Arbeitsplätze. In Europa trägt der Industriesektor mit nur 15 Prozent der Arbeitsplätze zu 60 Prozent des Produktivitätswachstums bei. In den USA, wo es weniger Industriejobs gibt, ist der Anteil sogar noch höher.
Wie kann das Ziel, produktivere Arbeitsplätze zu schaffen, erreicht werden?
Man sollte es nicht mit sektoralen Politiken versuchen, sondern sich auf Aktivitäten mit hoher Wertschöpfung konzentrieren. Die Stellung in den globalen Wertschöpfungsketten ist ebenfalls wichtig.
Ist Deutschland ein Modell für die Internationalisierung der Produktion in ganz Europa?
Deutschland hat viele Stärken, und es bewegt sich tatsächlich in die richtige Richtung. Aber Deutschland ist nicht das einzige Land in Europa, das auf die Globalisierung setzt. International aufgestellte Firmen finden sich in allen Industriesektoren und in allen europäischen Ländern.
Wenn Sie Frankreich mit Deutschland vergleichen, wie erklären Sie sich den relativen Niedergang der französischen Industrie?
Wie gesagt, der Niedergang der Industrie betrifft alle Länder. Allerdings stimmt es, dass dieser Trend in Frankreich stärker ausgeprägt ist als in Deutschland. Ich vermute, dass dies damit zusammenhängt, dass sich die französische Industrie langsamer auf Aktivitäten mit hoher Wertschöpfung verlegt. Frankreich ist zu sehr in der Defensive.
Haben Sie in Ihrem Bruegel-Report zur Zukunft der Industrie in Europa spezifische Länder untersucht?
Ja, das haben wir getan, und wir haben auch einige Industriesektoren unter die Lupe genommen. Dabei haben wir zum Beispiel herausgefunden, dass es gar nicht so wichtig ist, aus welchem Land Sie kommen - wenn Sie sich nur auf die richtigen Aktivitäten innerhalb globaler Wertschöpfungsketten konzentrieren.
Gilt dies auch für Länder wie Spanien oder Italien?
Spanien hat einen ziemlich großen Industriesektor, aber es steht nicht auf einem sehr hohen Produktivitätslevel, und es ist weniger in globale Wertschöpfungsketten eingebunden. In Italien ist das produzierende Gewerbe stärker in die internationale Arbeitsteilung eingebunden.
Steuert die europäische Industrie auf eine gute Zukunft zu? Falls nicht, was müsste getan werden?
Nun, mit Blick auf die EU-Politik mache ich mir einige Sorgen. Die EU setzt Ziele für die Größe des Industriesektors, und sie entwirft Aktionspläne für bestimmte Sektoren. Meiner Meinung nach ist dies nicht der richtige Ansatz. Die EU sollte sich nicht darum kümmern, Industriearbeitsplätze in bestimmten Sektoren zu halten, sondern vielmehr darum, den Anteil der Industrie am Produktivitätswachstum zu steigern. Die entscheidende Frage ist, welche Art von Industrie wir wollen: es geht um hochqualifizierte Aktivitäten mit hoher Wertsteigerung, die übrigens oft einen Dienstleistungscharakter haben. Ohnehin führt die Debatte „Industrie gegen Dienstleistung“ in die Irre. So sind in Deutschland 50 Prozent der Industriejobs in Wahrheit Dienstleistungen. Deutschland hat mehr Service-Jobs, als der Dienstleistungs-Sektor vermuten ließe!
Europa durchläuft eine schwere Wirtschaftskrise, die auch und gerade die Industrie trifft. Ich denke zum Beispiel an Nokia in Finnland. Dennoch wirken Sie recht optimistisch...
Ja, ich bin von Natur aus optimistisch! Unser Bericht zählt eine ganze Reihe von Chancen für die europäische Industrie auf. Im übrigen bin ich auch nicht sicher, dass der Ausverkauf von Nokia so negativ für Finnland ist. Es handelt sich um eine Art „schöpferische Zerstörung“, die jede Menge Möglichkeiten für neue Aktivitäten schafft. Ich bin mir sicher, dass Finnland dies sehr gut verstanden hat.
Die Fragen stellte Eric Bonse