Die Energiewende braucht einen europäischen Strommarkt
Bruegel-Forscher Georg Zachmann über das Paradox sinkender Stromerzeugungskosten.
Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, den gemeinsamen Strommarkt 2014 zu vollenden. Regulierer und Stromnetzbetreiber arbeiten unter Hochdruck an einer Harmonisierung der komplexen technischen Regeln für den Stromaustausch. Und schon 2012 haben in fast zwei Drittel aller Stunden des Jahres deutsche und französische Kraftwerke denselben Preis für die Produktion einer Megawattstunde Strom erhalten. Das heißt, immer häufiger werden fossile Kraftwerke mit hohen Produktionskosten ausgeschaltet werden, falls im Nachbarland Überschuss an billigem Strom vorhanden ist.
Allerdings könnte sich dieser Erfolg für die Stromkunden als wertlos erweisen. Vor zwanzig Jahren wurde der Großhandelsmarkt, auf dem grosse Energieversorger sowie Abnehmer handeln, als Herzstück des gemeinsamen Strommarktes gesehen. Das war seinerzeit sinnvoll, da konventionelle Kraftwerke die Stromerzeugung in Europa dominierten. Seither hat sich die Energielandschaft jedoch massiv verändert. Im Jahr 2012 waren 64 Prozent der neugebauten Stromerzeugungskapazitäten Wind- oder Solaranlagen. Wenn die Erzeugung in solchen Kraftwerken, die keine Produktionskosten verursacht, den Strombedarf übersteigt, sinkt der Preis im Großhandelsmarkt auf null. In Deutschland und den angrenzenden Ländern passiert dies immer häufiger. So sank der durchschnittliche Großhandelspreis in Deutschland von 2005 bis 2013 von 4,8 Cent pro Kilowattstunde auf weniger als 3 Cent. Gleichzeitig wuchs der Preis vor Steuern, den Haushaltskonsumenten bezahlen, von 13 Cent auf 25 Cent.
Das heißt, der Anteil der Stromerzeugungskosten am Endpreis fällt. Gleichzeitig steigen die Kosten für die Förderung Erneuerbarer Energien, den Ausbau der Stromnetze und die Bereitstellung kurzfristiger Ausgleichsenergie. Während der Großhandelsmarkt für Strom bis 2014 vollständig europäisiert werden soll, bleibt die Vergütung von Erneuerbaren, Stromnetzen und flexible Kapazitäten vorwiegend national organisiert. Zusätzlich führen mehrere Mitgliedstaaten eine Vergütung für die Vorhaltung von Kapazitäten ein.
So etabliert Frankreich gegenwärtig ein System, in welchem alle Verbraucher entsprechend Ihrer Stromnutzung Kapazitätszertifikate von französischen Kraftwerken kaufen müssen. Gleichzeitig schafft Deutschland mit der „strategischen Reserve“ ein System, welches ausgewählte deutsche Kraftwerke außerhalb des Strommarktes refinanziert. Wenn immer mehr Stromerzeugungskapazitäten außerhalb des Großhandelsmarkts entgolten werden, wird der europäische Großhandelspreis für Strom langsam gegen null konvergieren. Gleichzeitig werden Verbraucher immer höhere nationale Umlagen für Erneuerbare, Kapazitäten, Netzwerke und Flexibilität bezahlen. Dann wird der Anteil der Stromerzeugungskosten am Endpreis irrelevant und die Vollendung des gemeinsamen europäischen Großhandelsmarktes zu einem bedeutungslosen Erfolg.
In der jetzigen Situation ist es dringend geboten, dass die europäische Energiepolitik den dramatischen Wandel im Stromsektor nachvollzieht. Im 21. Jahrhundert darf sich ein effizienter europäischer Strommarkt nicht nur auf den schrumpfenden Großhandelsmarkt beschränken. Es muss auch einen gemeinsamen Markt für Erneuerbare, flexible Kapazitäten und Reservekapazitäten geben. Netzwerkbau und –betrieb ist eine Aufgabe im europäischen öffentlichen Interesse und sollten auch entsprechend organisiert und finanziert werden.
Ohne die Kostenvorteile eines umfassenden europäischen Strommarktes wird die Energiewende für deutsche Verbraucher deutlich teurer. Und in kleineren europäischen Ländern würden die Kosten für ein nationales System mit einem sehr hohen Anteil von Erneuerbaren wahrscheinlich prohibitiv hoch. Da ein rein deutscher Ausstieg aus Kern- und Kohlekraft aufgrund der grenzüberschreitenden Risiken dieser konventionellen Kraftwerke wenig sinnvoll ist, ist eine politisch tragfähige Energiewende ohne einen umfassenden europäischen Strommarkte nicht vorstellbar.