Eine Schocktherapie für unser Gewissen
Die Uno will die Armut besiegen. Der Ökonom Jeffrey Sachs schreibt, wie das gehen soll. Es tut sich etwas im Kampf gegen die Armut. Heute beginnt in New York der Armutsgipfel der Vereinten Nationen, am Wochenende war weltweiter "White Band Day" der Entwicklungshilfeaktivisten mit einem weißen Bändchen am Handgelenk. Vor zwei Monaten verständigte sich der G-8-Gipfel in Schottland auf vollständigen Schuldenerlass für die allerärmsten Länder, dazu gab es auf
der ganzen Welt Live-8-Konzerte. Das Buch zu diesen Ereignissen ist jetzt auf Deutsch erschienen: "Das Ende der Armut" von Jeffrey Sachs. Sachs ist ein brillanter Ökonom und begnadeter Selbstdarsteller, bekannt für die Schocktherapien, die er Polen (mit Erfolg) und Russland (mit deutlich weniger Erfolg) nach der Wende verordnete. Er wurde von Uno-Generalsekretär Kofi Annan vor drei Jahren zum Direktor des Uno-Millennium Projekts gemacht, um eine möglichst konkrete Strategie im Kampf gegen extreme Armut auszuarbeiten. Dieser Kampf trifft auf erheblichen Widerstand: Das öffentliche Misstrauen gegen die Entwicklungshilfe ist stark gewachsen, vor allem in den USA. Empirische Untersuchungen, die die Wirksamkeit von Entwicklungshilfe generell in Zweifel zogen, wurden von konservativen Think-Tanks schadenfroh verbreitet. Sie propagierten Wirtschaftsliberalisierung und Welthandel als Ersatz, nicht mehr als Ergänzung der Hilfe. Die Entwicklung in Asien schien ihnen Recht zu geben: Der Wirtschaftsboom dort hat in den letzten 20 Jahren die Zahl der extrem Armen trotz Bevölkerungswachstums um etwa 500 Millionen gesenkt. Viele Geberländer meinten, sich ihre Taschen nun guten Gewissens zunähen zu können. Vom Versprechen, 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben, wollten sie nichts mehr wissen. Die USA gaben nur noch ein Viertel der versprochenen Summe, Deutschland weniger als die Hälfte.
Sachs' Auftrag war es, den Geberländern Augen und Taschen wieder zu öffnen. Er tut dies, indem er zeigt, dass die Globalisierung Afrika keinen erkennbaren Fortschritt gebracht hat. Dort hat sich in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der extrem Armen auf 300 Millionen verdoppelt. Als extrem arm gilt, wer mit einer Kaufkraft von weniger als einem Dollar am Tag auskommen muss. Zum Vergleich: In der EU ist uns jede Kuh eine Subvention von rund zwei Dollar am Tag wert.
Schwarzafrika steckt laut Sachs in einer Armutsfalle: Die Armen sind zu arm, um auch nur ein kleines bisschen in die eigene Zukunft zu investieren. Gründe dafür sind Übel, gegen die die Instrumente Liberalisierung und Freihandel stumpf sind: Mangelernährung, schlechte Schulen, schlechte Gesundheit, Infektionskrankheiten. Dass gerade in sehr armen Ländern die Bevölkerung auch besonders rasch wächst, verschlimmert die Situation. Hier muss laut Sachs der Staat eingreifen, unterstützt durch eine massive Ausweitung der Entwicklungshilfe. Sachs rechnet vor, dass sich mit der von den Geberländern einst versprochenen Entwicklungshilfe von 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts die extreme Armut bis 2015 weltweit halbieren und bis 2025 ganz beseitigen ließe. Eine Welt ohne Armut ist machbar, Herr Nachbar!
Sachs' Buch ist eine Schocktherapie für unser Gewissen und ein Appell an unsere Vernunft. Unsere Unmoral im Angesicht extremer Armut kann sich an uns rächen. Darüber nachzudenken täte auch unserer innenpolitischen Psychohygiene gut; vom gierigen Besserverdiener bis zum Hartz-IVEmpfänger jammern wir auf hohem Niveau.
Seinen Auftrag hat Sachs mit seinem Buch erfüllt. Die reichen Ländern diskutieren ernsthaft über Entwicklungshilfe, wie der G-8-Gipfel von Gleneagles gezeigt hat. Aber so wie Sachs es sich vorstellt, wird die Schocktherapie gegen die Armut nicht funktionieren. Wie sollen denn die ärmsten Staaten die Verteilung des plötzlichen Geldsegen - von 15 bis 20 Prozentpunkte ihres Bruttoinlandsprodukts - überhaupt meistern? Dieser Frage widmet Sachs nur eine von 450 Seiten, und die ist voller Allgemeinplätze. Nach meinen Erfahrungen in der Entwicklungshilfe bin ich sicher, dass die Verwaltungen in den meisten Ländern komplett überfordert wären.
Diese Skepsis wird von den meisten Praktikern geteilt. Die Weltbankökonomen Ritva Reinikka und Jakob Svensson fanden kürzlich heraus, dass nur 13 Prozent einer für die Grundschulen gedachten Mittelzuweisung der ugandischen Regierung bei den Grundschulen ankam. 87 Prozent versickerten in den korrupten lokalen Verwaltungen. Schulen in reicheren Gegenden schnitten übrigens besser ab, weil reiche Eltern sich eher wehren konnten. Innerhalb solcher Verwaltungsstrukturen lässt sich die extreme Armut selbst mit viel Geld nur schwer bekämpfen. Es gibt kaum Schwierigeres und Langwierigeres in der Entwicklungshilfe, als leistungsfähige Institutionen am Ort aufzubauen. Die Alternative - geberdominierte Parallelbehörden aus dem Boden zu stampfen, die wie
Kolonialverwaltungen aussähen - wäre in der Regel weder wünschenswert noch realistisch.
Sollten wir uns also die Taschen wieder zunähen? Keineswegs. Zwar werden Korruption und Misswirtschaft das Ende der Armut gegenüber Sachs' überoptimistischen Prognosen verzögern; und unsere Steuergelder würden mit Sicherheit langsamer abgerufen, als Sachs dies vorsieht, jedenfalls wenn man ordentliche Kontrollen einbaut. Aber die reichen Länder könnten schnell und zu relativ geringen Kosten das zurückgewinnen, was amerikanisch "Moral Leadership" heißt; sie könnten ihren Führungsanspruch in der Staatengemeinschaft neu legitimieren. Den Einwohnern armer Länder würde die Mitschuld ihrer schlechten Regierungen an der Misere sichtbar vor Augen geführt, wenn im ursprünglich ähnlich armen Nachbarland plötzlich gute Beamte gut bezahlt und korrupte ins Gefängnis gesteckt werden, und wenn dann dorthin tatsächlich Gebermilliarden fließen. Auch im Kampf gegen den Terror wäre "Moral Leadership" entscheidend.
Biografisch dokumentiert "Das Ende der Armut" auch das vorläufige Ende einer langen Reise. Der Mann, der einst Schocktherapien zur Marktliberalisierung verordnete, hat gelernt, dass besonders in den ärmsten Ländern der Markt gegen die extreme Armut wenig ausrichten kann, wenn der Staat nicht massiv in Ernährung, Bildung und Gesundheit investiert. Diese Einsicht, das ist eine Ironie der Geschichte, hatte die Entwicklungshilfe der kommunistischen Ländern schon vor Jahrzehnten.
This article was also published by Berliner Zeitung.